Die letzte Szene

Während man schreibt, fühlt und lebt man die Geschichte. Man taucht ein mitten ins Leben der Protagonisten und lässt sich mitreissen. Was man nicht tut: Man denkt nicht darüber nach, dass die Geschichte auch irgendwann zu Ende ist . 



Mein geliebter Gartenarbeitsplatz

Eineinhalb Jahre lang war ich allein mit Elly, mit ihren Freunden und ihren Gedanken unterwegs durch die Ereignisse ihres Lebens. Sie waren ständig bei mir und immer wieder folgte eine neue Szene und die Story setzte sich Stück für Stück zusammen. Bis zu diesem Tag im Mai 2022.

 

Es war ein normaler Montag, ein Arbeitstag in der Werbeagentur, in der ich arbeite, den ich im Homeoffice, draussen in unserem Garten verbrachte. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren, denn am vorangegangenen Sonntag arbeitete ich sehr intensiv am letzten Durchlauf von Band III. Es fehlte nur noch das Redigieren der letzten vier Kapitel des ganzen, über drei Bände spielenden, Romans. Meine Gedanken drehten während der Arbeitszeit ständig um Elly, Lenny und Pietro, die in der Geschichte gerade wieder aus dem Ausland zurückgekehrt waren. Und ich mochte einfach nicht warten, bis es wieder Freitag war und ich endlich ein Zeitfenster hatte, um die letzten Stunden Arbeit in diese vier Kapitel zu investieren. Also habe ich mir an diesem Nachmittag erlaubt, mich im Büro auszuklinken (nein, es gab keinen Ärger mit der Chefin). Ich sass im Garten, stellte alle Kanäle auf off und öffnete das vierletzte Skript. Dann das drittletzte. Dann das zweitletzte. Es wurde inzwischen Abend. Die Familie schwirrte um mich, ich blieb fokussiert. Und ich bat alle um etwas Zeit, denn ich musste es nun bis zum Ende durchziehen. Unmöglich hätte ich jetzt abbrechen können. Mit dem Kopfhörer, bzw. abgeschottet mit berührender Musik schuf ich mir eine Blase aus ergreifenden Gefühlen, während ich meine Protagonisten ins letzte Kapitel begleitete. 

Von Freude bis Abschiedsschmerz

Alles, was über all die Zeit in der Geschichte geschehen ist, führt hier am Esstisch in Leilas Wohnung zusammen. Jeder wird gesehen. Die letzten offenen Antworten werden geklärt und in den Worten der Menschen bündelt sich – in meinen Augen – unschlagbare Schönheit. Vielleicht waren es 1000 oder 1200 Stunden Arbeit in den letzten 1.5 Jahren. Gewiss aber ist diese Geschichte die Zusammenführung von fast allen Erkenntnissen und Erfahrungen, die das Leben mir bisher geschenkt hat. Und an jenem Abend sass ich da, begleitet von Musik, tief berührt und redigierte das letzte Kapitel Abschnitt für Abschnitt Richtung Ende. 

 

Und dann war es vollbracht. Ich war fertig. Die Geschichte war einfach zu Ende. Keine einzige Szene wird mehr geschrieben oder angepasst, kein neuer Satz kommt mehr hinzu, alles ist gesagt. Mitten in meiner eh schon hoch emotionalen Musikblase und den Rührungstränen der Schlussszene im Gesicht starrte ich still in die Ferne und beobachtete fasziniert, was in mir los war: Dankbarkeit, Ergriffenheit, Freude, Euphorie … aber auch Trauer, Abschiedsschmerz und Leere. Ich war nicht im Stande, etwas zu tun oder zu sagen. Und ich wollte es auch nicht. Denn diese enormen Gefühle, die mich komplett eingenommen hatten, waren so wunderschön. Alle davon, auch die melancholischen. Ich wollte das alles nicht wegdrücken, sondern aufsaugen, fühlen und erleben. 

Die allerletzte Szene

Dann erst trug ich meinen Computer wieder ins Haus und wechselte von Leilas Essbereich hinein in unser Wohnzimmer. Von Pietros ergriffenen Tränen zu den Erzählungen meiner Kinder, der Hausaufgabenkontrolle und dem Füttern der Zwergkaninchen hinter dem Haus. 

 

Vor dem Einschlafen dachte ich noch einmal darüber nach, welches denn nun effektiv die allerletzte Szene war, die ich geschrieben habe. Es war nicht der Schluss des Romans, sondern der kurze Moment, als Lenny nach seiner Rettung ins Haus in Sinnigen kommt und da auf Pietro und Loris trifft. Elly beobachtet die Szene von der Treppe her. Ich musste hier Abschied nehmen von Pietro und Lenny. Doch ich war noch nicht ganz bereit dazu. So blickte ich innerlich länger und länger auf die Szene. Ich hatte das Bedürfnis, die beiden noch einmal genau zu sehen und beschrieb die Kleider, die sie trugen. Mit diesem Bild konnte ich dann Lebewohl sagen. Es war jetzt gut. Lenny und Pietro waren erwachsen geworden. Innen wie aussen. 

Ja, nun sind sie erwachsen!

Das ist die allerletzte geschriebene Szene:

 

Lenny trifft kurz vor dem Mittag in Sinnigen ein und betritt unser Haus, als Pietro, mit Loris auf dem Arm, und ich eben die Treppe herunterkommen. Pietro geht voraus und sogleich auf Lenny zu. Nach einem obligaten Fausthallo wagt er eine freundschaftliche Umarmung. Ich bleibe auf der Treppe stehen und beobachtete die beiden. 

 

Lenny wirkt verändert. Nicht nur, weil er wohl seit langem wieder einmal gut geschlafen hat und seinen Lebenssinn plötzlich wieder erkennen kann. Er trägt auch – welch ungewohntes Bild – Klamotten von Christian: eine modische Jeanshose mit Gurt, dazu ein schwarzes Sweatshirt mit weißen Rändern. Die Ärmel sind dreiviertel lang und in der Mitte zeigen die geöffneten Knöpfe etwas Brust. Zusammen mit den kurzen Haaren sticht die Veränderung eindeutig ins Auge. Besonders attraktiv ist das aufrichtige Lächeln, das Pietros Anblick bei Lenny auslöst. Ich sehe aber auch die unverarbeitete Erinnerung in Lennys Augen, die alten Turnschuhe an den Füßen, die Zigarettenbox in der Hosentasche und die Narben an den Armen. 

 

Pietros kräftig schwarze Haare sind erstmals länger als jene von Lenny. Doch sie können wohl gar nicht zerzaust wirken. Sie fallen immer so, dass es bildschön aussieht, was aber vielleicht auch an seinem herzlichen Gesicht liegt. Pietro hat von uns Dreien gewiss am meisten Sinn für geordnete Kleidung und wenn immer es geht, achtet er darauf, was er aus dem Schrank zieht. Für ungewöhnliche Kombinationen scheint er stets offen zu sein. Heute fand er zu seiner dunklen Dreiviertelhose ein hellblaues T-Shirt mit Kragen und darüber trägt er dünne Hosenträger. Loris Shorts sind mehrfach geflickt und das ärmellose T-Shirt wirkt einige Nummern zu groß. Die Herzlichkeit des Wiedersehens zwischen Lenny und Pietro löst auch in Loris Freude aus. Der Knirps auf Pietros Arm lacht fröhlich, hebt spontan seine kleine Hand zum Gruß und – Lenny klatscht tatsächlich sein HighFive ab. 

 

In meinem Herz scheint sofort die Sonne bei diesem Anblick. Pietro und Lenny – so realisiere ich in diesem Moment – sind beide definitiv erwachsen geworden. Innen wie außen.

 


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